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Meine erste Seereise - 06/02/2012 15:27
Meine erste Seereise
Fotos+Details: /pd/
Meine_erste_Seereise
.pdf Meine erste Seereise sollte eigentlich ganz anders verlaufen: Am 3. September 1939 von Reval (Tallinn) über Southampton nach Australien. Das Datum verrät schon, warum daraus nichts wurde - Krieg!
Meine deutsch-baltische Familie in Estland, seit Generationen dort ansässig, ahnte mit der politischen Entwicklung Mitte der 30er Jahre eine furchterregende Zukunft. Einerseits machten sich die deutschen Nationalsozialisten breit, andererseits waren die Ambitionen der Sowjets, das Baltikum einzuverleiben, nicht zu überhören. Daraus entstand der unabänderliche Wille auszuwandern. Aber es war zu spät.
Der Hitler-Stalin-Pakt mit seinem geheimen Zusatzabkommen vom August 1939 schaffte Fakten: ab 1940 wird Estland schrittweise von der Roten Armee besetzt! Der deutschen Volksgruppe in Estland zugehörig, erbot sich Hitler-deutschland, seit dem 9. Oktober 1939 mit der estnischen Regierung in Verhandlungen stehend, uns als sog. Volksdeutsche heim ins Reich zu führen. Eine Umsiedlungsaktion unter Leitung der SS Himmlers in das besetzte Polen begann. Wegen der deutsch-
estländischen Vereinbarung, Hab und Gut bis auf ein paar Koffer in der bisherigen Heimat zurückzulassen, ging es in eine ungewisse Zukunft.
So begann am 16. Januar 1940 meine erste Seereise: Meine Angehörigen und ich als Knirps begaben sich im Revaler Hafen an Bord des für die Ausreise bereit liegenden KdF-Schiffes „Der Deutsche” (ex Sierra Morena).
Die Sierra Morena war ein deutsches Passagierschiff. Es war mit 11.430 BRT vermessen, 156 m lang, 20 m breit und hatte einen Tiefgang von 7 m. Masten höhe war 34,5 m über Deck. Mit einer Maschinenleistung von 5147 kW (7000 PS) wurde eine Höchstgeschwindigkei
t von 15 kn erreicht. Das Schiff hatte Platz für 1100 Passagiere, verfügte über 18 Rettungsboote und war in elf wasserdichte Abteilungen unterteilt. Die Besatzung betrug 300 Mann. Die Sierra Morena wurde 1924 auf der Vulkan-Werft in Bremen für den Norddeutschen Lloyd gebaut. 1935 kaufte die Deutschen Arbeitsfront das Schiff, benannte es um in „Der Deutsche” und setzte es für Kreuzfahrten der nationalsozialistisc
hen Gemeinschaft „Kraft durch Freude” (KdF) ein, wobei der Norddeutsche Lloyd den Dampfer aber weiter bereederte. „Der Deutsche” ging nach dem Zweiten Weltkrieg als Kriegsbeute an die Sowjetunion und fuhr ab 1950 mit dem Namen Asia unter sowjetischer Flagge als Passagierdampfer überwiegend im fernen Osten zwischen Wladiwostock und Kamtschatka. Das Schiff war bis 1970 im Dienst und wurde anschließend verschrottet.
Zum Jahreswechsel 1939/1940 herrschte ein eisiges Winterwetter. Es gab viel Schnee und die Ostsee war über große Gebiete zugefroren. Die Überfahrt gestaltete sich besorgniserregend. Das Schiff konnte über weite Strecken nur mit Eisbrecherhilfe vorankommen. Beängstigend war jedoch die ständige Furcht, dass der Dampfer aus der Luft angegriffen wird: Großbritannien befand sich seit dem 3. September mit Deutschland im Kriegszustand, das deutsche U-Boot U 30 versenkte „irrtümlich” am gleichen Tag den britischen Passagierdampfer Athenia. Uns begleitete ständig ein Torpedoboot der Kriegsmarine, das eben-falls mit dem Eis zu kämpfen hatte.
Nach fünf Tagen und 4 Nächten wurde Gotenhafen (bis 20. September 1939 Gdingen, dem bisherigen und heutigen Gdynia) erreicht. Das war ungefähr die doppelte Zeit, die die Überfahrt normalerweise ge-braucht hätte. Auch in diesem Hafen herrschte eisiger Winter.
Jedoch ging es noch nicht von Bord. Die Umstände er-läuterte meine Mutter in einem Brief an den Vater, der zur Regelung von Obliegenheiten noch kurze Zeit in Estland verblieb:
„…Wir sind noch immer an Bord und warten der Dinge, die da kommen sollen. Es sind noch un-gefähr 100 Personen an Bord, viele sind schon fort, für uns sind scheint´s noch keine Quar-tiere frei. Andererseits, sagt man, sind überall starke Schneeverwehungen, so dass die Züge stecken bleiben und wir nicht abtrans-portiert werden können. Die Züge werden ande-rerseits wieder dringend zum Transport v. Kohlen benötigt, daher großer Mangel an Ei-senbahnzügen. Auch die Post geht innerhalb Deutschlands jetzt sehr langsam. Wenigstens eine halbe Woche, bis man sie bekommt! – Uns geht es hier auf dem Schiff soweit gut, werden sehr gut verpflegt und haben aufmerksame, nette Bedienung.”
So endete meine erste Seereise, mit der der lange Leidensweg durch Krieg und Nachkriegszeit begann. 15 Jahre später fuhr ich selbst als Seemann auf dem Baltischen Meer, beginnend mit der zweiten Reise, weitere folgten bei der DSR bis in den Fernen Osten.
Dr. Boris Kudevita ehem. Schiffsingenieur
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